„Hm…“, murmelte Shia geistesabwesend, während sie das schwingende Lichtermeer um sich herum betrachtete. Ein kurzes, aber fahrlässiges Missgeschick. Die Heilerin unterdrückte ein leises Fluchen, als sie wahrnahm, wie die Luft durch ihren Kehlkopf strömte, dabei von den Stimmlippen in sanfte Schwingung versetzt wurde und ihren Körper durch ihre Nasenlöcher verließ, wo sich die Vibrationen wie ein Lauffeuer im Raum ausbreiteten. Schon beim Eintauchen in die Umgebung war der Klang kaum mehr vom Ganzen zu trennen. Kugelförmig breitete sich das reine Summen in dunkelblauen Wellen um sie herum aus und überall wo es auf andere Schwingungen traf, brachte es diese in Resonanz. Hoch und tief, hell und dunkel, grün, blau, rot, violett, alles begann sich zu vermischen und der einzelne Laut stieß auf Farben, Formen und andere Klänge. Licht und Schall, Gefühl und Form stimmte in das Geräusch mit ein und schon einen Moment später zitterte die gesamte Welt und färbte sich mit jedem Augenblick neu ein. Als wäre dies nicht genug gewesen, fühlte Shia, wie sie zwar das Fluchen unterdrückt hatte, ihren Ärger über den Patzer jedoch nicht. Eine Hitze durchfuhr ihren Körper, mischte sich feuerrot bis orange mit dem noch nachklingenden Geräusch und verwandelte die Umgebung nun endgültig in einen tobenden Sturm.

Die Heilerin seufzte und löste ihren Fokus widerwillig. Hier und da kehrte das Meer aus Vibrationen wieder in seine weltliche Form zurück. Ein violettes Zittern zu ihrer Rechten wurde ein Vogelzwitschern, ein schwach bläuliches Summen wurde zur Kälte des Wassers in der Schale auf ihrem Tisch und ein sehr langsames graues Brummen kehrte als Atem in den jungen Mann zurück, der vor ihr auf dem Bett lag. Als letztes kehrte auch die Ungeduld zu ihr zurück, wo es der schon wartenden Gleichmut begegnete, die diese willkommen hieß, so dass beide zusammen sich langsam in das rhythmische Ganze der Heilerin einfügten.

Shia seufzte erneut und atmete tief durch, um die Anspannung der letzten Stunden aus sich fahren zu lassen. Obwohl sie schon seit drei Jahrzehnten in ihrem Handwerk geübt war, bot jeder neue Fall eine einzigartige Herausforderung. Und dies war eine ganz besondere. Seit einigen Stunden versuchte sie, seinem Geheimnis auf den Grund zu gehen, doch der junge Mann verbarg es vor sich selbst ebenso gut wie vor ihr. Vermutlich hatte er sich nur deswegen überhaupt auf die Behandlung eingelassen. Weil er sich so sicher war, nichts in seinem Inneren zu haben, das die Heilerin entdecken könnte. Doch Shia wusste es aus langer Erfahrung besser. Hier lag so viel ungelöstes Potenzial, dass sie das Loch, das es hinterließ, durch die Bar gespürt hatte.

Shia vertraute ihrer Intuition. Sie hatte noch nie falsch gelegen und sie war sich sicher, dass sie es auch dieses Mal nicht tat. Noch einige Male verließ ihr Atem ihren Körper und kehrte wieder dahin zurück, kam dabei langsam wieder zur Ruhe, bis er kein Geräusch mehr erzeugte. Schritt für Schritt trat Shia in ihrem Geist zurück. Betrachtete zuerst ihren Atem. Dann betrachtete sie sich, wie sie ihren Atem betrachtete. Schritt um Schritt entfernte sie sich immer weiter von sich selbst und tauchte dabei dennoch immer weiter in die Substanz der Welt ein. Zuerst fühlte sie, wie ihr Körper schwach zitterte. Er begann nicht zu zittern, sie nahm wahr, wie er es bereits die ganze Zeit getan hatte. Elektrische Impulse, die über ihre Nerven huschten. Blut, das durch ihre Adern floss. Die Wärme, die von innen bis an ihre Haut drang. Druck, Hitze, Kälte. Alles wurde zu seinem eigenen Schwingen und alles Schwingen wurde zu einem Ganzen ihrer selbst. Sie fühlte ihren Atem, wie die Luft ein und aus strömte, wie sich Bauch und Brust hoben und senkten. Und auch dies wurde zu einer rhythmischen Schwingung, die sich in das Gesamtbild fügte. Sie trat noch einen Schritt weiter in sich selbst und fühlte in ihr Herz. Mitgefühl für den jungen Mann und für sich selbst, eine leichte Müdigkeit von der Dauer der Heilung, ein Echo der Frustration über ihren Fehler, ein Hauch Ambition. Sie spürte die Empfindungen in ihrem Körper und ließ auch diese sich in ihrem eigenen See aus Vibration verlieren. Dann hielt sie für einen Moment inne und betrachtete ruhig, was sich vor ihr, in ihr und um sie erstreckte. Was sie selbst war. Und merkte sich jeden Teil, wo er war und wie er schwang.

Erst dann öffnete sie die Augen. Die Welt um sie herum begann bereits zu wabern, als würde sie diese durch sehr klares doch in Bewegung befindliches Wasser wahrnehmen. Alles im Raum, jede noch so feste und stabile Oberfläche vom Holztisch bis zum Mauerwerk schien in sanfter Bewegung zu sein. Rhythmisch ging ihr Atem weiter und mit jedem Atemzug löste sich die Welt von ihrer Form. Klänge, die von draußen in das Zimmer fielen, wurden sichtbar und verteilten sich farbig um sie. Farben wurden zu Klängen und füllten ihren Platz und den Raum darüber hinaus. Schon bald war nicht mehr zu unterscheiden, was vorher Klang und was Farbe gewesen war. Zuletzt löste sich auch die Form. Alles was fest war, zitterte, schwang und löste sich in Schwingung auf bis der gesamte Raum in das schwingende Meer einiger Augenblicke zuvor zurückgekehrt war. Für weitere lange Atemzüge nahm Shia die Welt in sich auf. Ordnete für sich, wo Geräusche, Farben und Formen waren und wo sie auf sie selbst trafen. Wo sie war, getrennt vom Ganzen. Ein ganz unmögliches Unterfangen, denn dort, wo sie jetzt war, war Trennung nur noch eine Idee aus einer anderen Welt, die keine Rolle mehr spielte. Die Heilerin spürte, wie der Zauber dieser Welt sie umfing. Nichts war mehr zwischen ihr und allem anderen. Gedanken verloren sich hier und wurden unwichtig. Gefühle erschienen unmittelbar und rein, ohne den Ballast, den wir ihnen so oft auferlegten. Shia fühlte, wie Menschen draußen an ihrem Haus vorübergingen und wusste, dass es kein draußen gab und auch keine anderen Menschen. Was sie waren, verwob sich ohne Grenzen mit ihr selbst, dem Haus, der Luft, der Welt. Und wenn sie gewollt hätte, sie hätte dies alles, hätte Shia loslassen und mit ihnen eins sein können. Doch dafür war noch nicht die Zeit. Die Heilerin genoss noch einmal das Gefühl der Wahrheit der Welt und besann sich zurück auf ihre Aufgabe. So wurden diese Teile zu ihr, jene Teile zur Welt und es entstand eine Ordnung in ihrem Bewusstsein, wo in der Welt keine war.

Erst jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den jungen Mann vor sich. Eine unendliche Welt, der ihren ähnlich und doch völlig anders, offenbarte sich ihr und wieder kostete es sie viel Konzentration, ihn nicht mit der Welt und gar sich selbst verschmelzen zu lassen und künstlich getrennt zu halten. Ihre Atemzüge waren inzwischen so lang geworden, dass Minuten vergingen, bis sie die Stille zwischen dem Ein- und dem Ausatmen erreichte. Geduldig wartete sie auf die nächste solche Stille und verharrte für einen Moment in dieser. Diesen Moment der absoluten Ruhe in sich nutze sie, um das, was sie war, behutsam nach hinten zu schieben, aus dem Feld um sich herum. Den nächsten Atemzug verwendete sie darauf, sich selbst dort zu halten, wo sie sich hingeschoben hatte und den gefühlten Ort in der Raumlosigkeit zu wahren. In der nächsten Stille nahm sie alles was zum Raum gehörte, von den Farben und Formen bis zu den Klängen und schob dies alles nach außen, von sich, weit hinaus, um viel Platz um sich herum zu machen. Ohne ihr eigenes Zutun füllte sich der Raum von selbst mit dem einzigen, was noch übrig war: Alles was zu ihrem Patienten gehörte flutete wie Wasser das neu entstandene Gefäß und die Essenz des Menschen breitete sich um sie herum aus. Den nächsten Atemzug ließ Shia besonders tief werden, als sie sich die Flut aus Mensch anschaute, die sich vor ihr erstreckte.

Der Atem verließ langsam ihre Nase bei dem Versuch ein weiteres „Hm“ zu unterdrücken, doch was sie sah, machte es ihr schwer, nicht artikuliert zu grübeln. So viele… Gedanken… Immer wieder tauchte sie in das chaotische Meer aus wabernden Schwingungen ein und griff eine heraus, was bedeutete, dass sie ihr Bewusstsein, welches schon längst nicht mehr bei Shia war, hindurch manövrierte und die Dinge genauer betrachtete. Was mehrere Schwingungen miteinander verband und sie zu einem Ding gleich welcher Art machte, konnte wohl nur Shia selbst wissen. Ein ungeschulter Blick mochte auf eine Stelle gucken, die ihm zusammengehörig erschien und damit einen Teil Fensterglas, einen halben Sonnenstrahl und eine Harmonische des Läutens einer Kirchturmglocke in einem Erfassen und bei dem Versuch, dies als Einheit zu begreifen, förmlich den Verstand verlieren. Die Heilerin vermochte es sehr gut zu beurteilen, welche Schwingungen sich in der anderen Welt verbanden, doch schien es ihr noch immer nicht ganz zu gelingen, von außen ihre Natur zu erkennen. Oder lag es einfach daran, dass sie es nicht für möglich gehalten hatte, dass nichts von dem da war, was sie suchte? Gedanken über Gedanken über Gedanken. Sorgen über die Zukunft. Schwelgen in der Vergangenheit. Selten ein Gedanke an das hier und jetzt und wenn, dann nur um etwas Vergangenes mit etwas Zukünftigem zu verbinden. Es schien nicht zu versiegen und sich durch die ganze Welt des jungen Mannes zu ziehen. Selten, nein, noch nie hatte es die Heilerin erlebt, dass selbst die Körperempfindungen von Gedanken überstrahlt wurden. Sie wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie ihm in den Arm gestochen hätte und der Reiz noch auf dem Weg von Gedanken überlagert verhallt wäre. Aber irgendwo mussten sie doch sein… Sie waren immer irgendwo… Vielleicht tief, verborgen, versteckt, verschüttet, aber nie fort. Doch wohin Shia blickte, egal wie tief sie suchte, keine Spur…

Der Raum vibrierte noch weiter in die Welt hinaus, als sie dem Frust mit einem diesmal langsamen und kontrollierten Stöhnen Raum geben musste, um nicht in schlimmere Unruhe zu geraten. Sie befand sich tief, hinter den Gedanken, weit in den Erinnerungen, dort, wo sich immer noch eine von ihnen zurückgezogen hatte und immer noch fand sie nichts. Ihr Selbst und die Welt waren noch weiter nach außen gewichen, um ein Universum weit Platz zu machen für die Innenwelt des Mannes, doch das mehr an Detail brachte nicht mehr Vielfalt, sondern nur mehr Fülle.

Shia überlegte eine lange Weile. Sie leitete ihre eigenen Gedanken außen um das Universum herum, um keine Aufruhr zu erzeugen und ließ sie dort kreisen. Schlussendlich bekam sie eine Ahnung, worum es sich bei dem unbenennbaren Gefühl in ihrem inneren handeln konnte. Nachdem sie ihren Blick ausschließlich darauf gerichtet hatte, was da war, war ihr entgangen, was nicht da war. Oder viel eher, wie viel nicht da war. All die Fülle mochte wohl kaum den Eindruck vermitteln, dass es zu wenig war, doch zwischen den Dingen erstreckte sich eine nur erahnbare Leere. Selbst so tief im Inneren hätte da mehr sein sollen. Doch mehr als diesen Eindruck konnte sie nicht festigen. Woher sollte sie denn wissen, wohin sie gucken sollte, um etwas zu finden, was nicht da zu sein schien?

Sie betrachtete eine Weile das Meer um sich herum. Um sich in dieser Welt zurechtzufinden, musste man konstant zwei Dinge ausblenden. Zum einen, das alles absolut und immer in Bewegung war und nichts sich jemals zur anderen Zeit am gleichen Ort oder in der gleichen Form befand und zum anderen, wie die Dinge stets alle miteinander in Verbindung standen. Klänge beeinflussten Klänge, Wärme formte Kälte und andersrum und selbst Materie wirkte aufeinander. Doch auch zwischen den Dingen. Klänge berührten Gefühle, Wärme berührte Klänge, Gefühle formten Materie. Und wie sie so die Verbindung der Dinge betrachtete, mehr um sich abzulenken und ihren Kopf freizukriegen als zu einem Zweck, schloss sich eine weitere Idee an. Sie wartete einen Moment, bis auch diese verschwunden war und schaute wieder in den jungen Mann, zielstrebig auf einen der vielen Gedanken, die um sie herumtrieben. Mit einem winzigen Hauch von Anstrengung gab sie ihre Energie hinein, nur einen Hauch, um den Gedanken anzuregen. Sofort begann er vor Aufmerksamkeit zu leuchten. Doch nicht nur er selbst, ein winziges Leuchten ging durch alles, was mit ihm in Verbindung stand. Es war nicht leicht, dies zu erkennen, da ein solches Leuchtnetz bei jedem neu auftauchenden Gedanken entstand und ihr Patient davon tausende in schneller Folge produzierte, doch Shia war geduldig und vielleicht etwas stur. Sie gab dem Gedanken noch einen Impuls und folgte einer der Wellen tiefer in das Gedächtnis, wo Gedanke auf Erinnerung traf. Den vorigen Gedanken behielt sie bei sich um diesem genau in diesem Augenblick noch einen kleinen Schub zu versetzen. Die Erinnerung leuchtete auf, so dass die Heilerin sich sicher sein konnte, sie ganz zu erwischen, und ließ den Gedanken los. Erinnerungen waren deutlich schwerer zu greifen als Gedanken. Größer, zerstreuter. Überall verteilt, nie an einem einzigen Ort. Was Shia vor sich sah war eigentlich überall, sie hatte es nur der Einfachheit halber hier gesammelt. Ob dies keinen Einfluss hatte? Nein, Ort spielte hier überhaupt keine Rolle, es war nur ein Hilfsmittel. Alles war überall und doch an einem einzigen Punkt, doch wer hätte sich darin zurechtfinden können?

Shia hielt die Erinnerung und spürte die leichte Anstrengung, die damit verbunden war. Sie konnte förmlich fühlen, wie diese Erinnerung auf die eine oder andere Weise mit tausenden, wenn nicht über Umwege sogar mit allen anderen verbunden war. Und zudem gab sie nun der Erinnerung einen kleinen Stoß. Sie leuchtete erneut auf und ein Lichtermeer aus abertausend Verbindungen explodierte um sie herum. Die Heilerin musste sich sammeln. Sie wusste, warum sie dies nie tat und sich vorher überlegte, welche Wege sie nahm. Das war aber nun nicht möglich, wo sie nicht wusste, was sie eigentlich suchte. Sie gab der Erinnerung einen weiteren Impuls, einen kleineren dieses Mal, und betrachtete die Wellen. Eine Ahnung begann sich zu formen, ganz schwach doch sichtbar. Behutsam nahm sie die Erinnerung, formte sie zu einer handlichen Kugel und behielt sie sicher bei sich, während sie in eine andere Tiefe abtauchte. Immer wieder gab sie dem Ball kleine Stöße, bis sie alle Teile einer weiteren Erinnerung beisammen hatte. Dann gab sie auch dieser einen Stoß und betrachtete die flackernden Wellen, vor allem aber jenen Punkt, an den sie ihre Ahnung zog. Nichts. Etwas Anspannung löste sich als sie die zweite Erinnerung gehen ließ und diese sich wieder zerstreute. Nicht die richtige. Also füllte die Heilerin ihre erste Erinnerung wieder mit Licht und folgte den Wellen zu einer anderen Spur. Als sie diese gesammelt und angestoßen hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Ein Lächeln musste ihr Gesicht zieren, denn ihre Wärme brachte das Universum in sanfte Aufruhr.

Gelassen doch bestimmt huschte Shia durch das Meer und wiederholte den Prozess mehrere Male. Immer wieder erleuchtete sie die beiden Erinnerungen, die sie schon hatte, suchte damit verbundene, testete ihre Reaktion und sortierte sie aus oder fügte sie ihrer Sammlung hinzu. Nachdem sie zwölf dieser Bausteine gesammelt hatte, gab sich die Heilerin zufrieden. Sie wusste nicht, ob es auch weniger getan hätten, doch zwölf schien ihr eine gute Zahl. Behutsam rückte sie das gesamte Dutzend in ihr Bewusstsein. Sie fühlte die unglaubliche Anstrengung, so viele Teile im Fokus zu halten, doch bald sollte es wohl geschafft sein. Noch einmal atmete sie tief durch, dann gab sie jeder einzelnen Erinnerung gleichzeitig einen Stoß. Chaos brach im Universum aus, als alle Verbindungen, die diese zwölf hatten, alle weiteren Verbindungen anstießen und es schien, als wäre nichts nicht betroffen. Doch Shia behielt die Ruhe und achtete genau auf jene Stelle in der Dunkelheit. Da war es! Alle zwölf Erinnerungen waren miteinander verbunden und mehrere von ihnen auch mit anderen Teilen, anderen Erinnerungen und Gedanken, aber vor allem waren alle zwölf mit einem gemeinsamen Teil verbunden. Mit einem unsichtbaren Teil. Shia hatte es nicht für möglich gehalten, doch zwischen den Milliarden von wabernden Schwingungen hielten sich ungeahnt mehr verborgen, die es geschafft hatten, ihren Schein vor ihr und ihrem verbundenen Bewusstsein zu verbergen. Die Heilerin atmete ein letztes Mal tief ein. Der nächste Moment war entscheidend. Tiefer. Noch tiefer. Dann gab sie sich selbst hinein und ließ die Energie strömen. Kein kleiner Stoß, eine Druckwelle fuhr durch die zwölf Erinnerungen. Um sie herum gingen Lichter auf greller als die Sonne, doch Shia beachtete keins von ihnen. Sie betrachtete die Dunkelheit zwischen ihnen, beobachtete, wie die zwölf Wellen aus Licht in ihr zusammenliefen. Dann geschah es, die Dunkelheit gab nach und in der Finsternis pulsierte eine einzelne Schwingung für einen Bruchteil eines Moments in einem schwachen Blau, das so dunkel schien, dass es sich kaum von der Dunkelheit abhob. Doch das reichte. Die Heilerin huschte Lichtjahre durch das Universum und griff behutsam doch sicher nach der Schwingung. Die zwölf Erinnerungen ließ sie mit einem Mal los und rief ihre gesamte Energie zu sich zurück.

„Hab ich dich“, sprach sie leise und ihre Erleichterung, ihre Begeisterung und ihre Worte füllten den Raum. Doch das war nun gleichgültig, sie hatte es gefunden, hielt es sicher in ihrem Bewusstsein und fühlte, dass es keine Gegenwehr leistete. Bei all dem Versteckspiel wollte es doch eigentlich immer nur gefunden werden. Gesucht werden. Gesehen werden. Ganz vorsichtig löste die Heilerin ihren Griff, um das Licht genauer zu betrachten. Ein Gefühl. Eine kleine Trauer. Die kleinste Trauer in der Dunkelheit, zu schwach, um sich zu verstecken, als sie an den Erinnerungen rüttelte. Eine Schwingung, ähnlich der anderen, aber rein und klar. Unverfälscht von den Wirrungen des Verstandes.

„Keine Angst“, flüsterte die Heilerin zu der kleinen Trauer. „Du bist nun sicher“.

Ganz langsam beugte Shia sich herab, näherte sich dem Gefühl und gab ihm einen kleinen Kuss, in den sie all ihre Liebe und ihre Zuwendung legte. Die Trauer begann zu leuchten, heller als alles andere im Raum… und verschwand. Die Erinnerungen verschwanden, die Gedanken verschwanden. Von einem Moment auf den anderen schienen Tausend Jahre im Bruchteil einer Sekunde vorbeizuziehen, als alles wieder manifest wurde. Schwingungen kehrten zurück zu Farbe, Form, Licht, Klang, Fest, Flüssig, Ich und Du.

Shia saß auf ihrem Stuhl, Schweißperlen auf der Stirn und der Atem schwer. Der junge Mann saß vor ihr auf dem Bett, starr aufgerichtet, die Hände in das Lacken gekrallt und die Augen aufgerissen. Für einen Augenblick sah er sich panisch im Raum um und versuchte Halt zu finden, bis er endlich den Blick der Heilerin traf. Für einen Moment hielt sie seinen Blick, schenkte ihm alles was sie an Zuwendung zuvor der kleinen Trauer gegeben hatte. Dann brach der junge Mann in bitterliche Tränen aus. Kein schönes Weinen. Kein anständiges, sittsames oder gar männliches Weinen, was immer dies sein mochte. Nein, ein echtes Weinen, ein herzzereißendes Weinen, eines, das einem jegliche Kontrolle raubte. Der Mann fiel zur Seite und Shia fing ihn auf, legte die Arme sicher um ihn und hielt ihn. Mehr war nicht zu tun. Sie hielt ihn und er weinte. Ein neues Leben lag vor ihm. Ein anderes Leben, von dem er noch nichts ahnte. Doch das war morgen. Heute war Trauer.

Danke fürs Lesen!

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