Schuldgefühle

2023

Ich tue mein Bestes, die Schultern gerade und meine Haltung aufrecht zu halten und zugleich fällt es mir doch auch irgendwie leicht… Immer noch ungewiss, ob man von mir erwartet, gebückt und klein über die Schwelle zu kriechen oder ob gerade dies die Situation eskalieren würde. Also entscheide ich mich für den Rest meiner Würde und schreite, statt zu kriechen, weder überheblich noch gebrochen, obwohl beides gleichermaßen zu- und in mir auf Widerspruch trifft. Mein Blick wandert durch den Raum und sucht jene, die auf mich fallen, in der Hoffnung auf Wenige. Ich suche bekannte Gesichter, mit der gleichen Hoffnung. Einige schauen in meine Richtung, doch nahezu alle unbekannt. Flüchtige Wanderer, von denen sich hier viele einfinden. Ein Grund, warum unsereins an diesen Ort geschickt wird. Und genug Zeit ist seit dem letzten Mal vergangen. Genug Zeit für ein Kommen und Gehen.

Dann jedoch erkenne ich eine Gruppe Männer an einem Tisch in der Ecke. Längst haben sie mich entdeckt. Ihre Körpersprache ist eindeutig. Ich warte, kaum zwei Schritte hinter der Tür, auf ihre Reaktion. Einer von ihnen wendet den Blick ab, sucht den der anderen. Sie erwidern ihn nichtssagend. Dann rückt er mit seinem Stuhl zurück und steht auf. Mein Körper spannt sich an, die Fäuste ballen sich in den zu langen Ärmeln des zerschlissenen Mantels. Bevor er sich jedoch ganz von seinem Platz entfernt, greift einer der Kameraden nach seinem Handgelenk. Meine Anspannung löst sich zusehends. „Nicht wert“, lese ich von seinen Lippen ab und obwohl sich der mögliche Angreifer nach einem langen Moment des Augenkontakts wieder setzt, lassen mich diese Worte erneut die Fäuste ballen, dass ich das weiß der Knöchel förmlich fühle.

Mit schwungvollem Gang huscht die Schankmaid auf dem Weg zum nächsten Tisch an mir vorbei, bemerkt mich jedoch und kommt elegant zum Stehen. Ihr Lächeln trifft mich unerwartet und zum ersten Mal seit Jahren fühle ich so etwas wie menschliche Wärme. „Hey, was kann ich…“, es dauert jedoch nur einen Wimpernschlag, bevor die junge Frau das rote Band um meinen rechten Arm bemerkt. Ihre gesamte Persönlichkeit scheint sich zu wandeln, als ihre Mimik sich von der stets herzlichen Persona in pure Abscheu verkehrt. Sie bricht die Interaktion viel weniger ab, als dass sie sie durch ihre Abweisung förmlich ungeschehen macht, und setzt ihren Gang ununterbrochen fort.

Ich setze mich an den Tresen und warte auf die Aufmerksamkeit des Wirts, der mit dem Rücken zu mir eine Flasche zurück aufs Regal stellt. Als er sich umdreht verlangsamen sich seine Bewegungen. Kein schockiertes Erstarren. Kalkulierter. In aller Ruhe legt er die Unterarme auf dem biergetränkten Holz ab und beugt sich vor, ohne den Augenkontakt zu brechen. Dann spuckt er mir ins Gesicht. Keine Aggression, kein sichtbarer Affekt. Eine Selbstverständlichkeit.

Ich wische mir den Speichel mit einem Ärmel weg und sehe, wie der Wirt einen seiner Knaben zu sich zitiert. Der Junge schaut einer Geste nach in meine Richtung. Er beginnt zu diskutieren, verliert, seufzt, schaut verächtlich in meine Richtung und verschwindet in der Küche. Die ersten Male habe ich damit gerechnet, dass sie mich warten lassen. Inzwischen weiß ich, dass sie versuchen, mich so schnell wie möglich aus ihren vier Wänden zu bekommen. Unseresgleichen ist schlecht fürs Geschäft. Ein Teil von mir genießt das. Erwartungsgemäß kommt der junge wenige Momente später zurück und wirft mir einen Teller auf den Tresen, dem ich nur knapp meine Hände aus dem Weg ziehen kann. Zwei alte Äpfel kullern über den Tellerrand. Darauf liegen ein paar Scheiben trockenes Brot, geronnene Butter, matschiges, überkochtes Gemüse und ein paar runzlige Kartoffeln. Ich bedanke mich mit der üblichen Geste wortlos.

„Vater sagt, du darfst nicht am Tresen essen, du sollst…“ Ich unterbreche den Jungen mit einem Nicken und deute auf die mir bekannte Sitzecke abseits des Raumes, in der keine Kerze auf dem Tisch steht.

Wenig später sitze ich mit meiner notdürftigen Mahlzeit in der Dunkelheit und genieße das erste richtige Essen seit einer Ewigkeit. Obwohl mir eine Mahlzeit pro Tag zusteht, versuche ich seit Monaten mich von Beeren und Wurzeln sowie Resten, die von Händlerwägen fallen, zu ernähren, nur um diesen Ort, die ganze Stadt, die Menschen zu meiden, doch der Winter nähert sich zunehmend und ich kann kaum noch stehen.

Ins Essen vertieft bemerke ich erst nach einiger Zeit, dass ein kleiner Junge neben mir steht. Ich schaue ihn an. Versuche seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Die Abwesenheit von Verachtung verwundert mich. Auch keine Wut. Neugier? Dann beantwortet sich die Frage von allein, als er mir mit einem kräftigen Stoß den gesamten Inhalt eines Bierkrugs ins Gesicht, über den Mantel, meine Hose und mein Essen schüttet. Hastig rennt der Bursche zurück zu zwei Männern, die an einem Tisch sitzen. Sie lachen. Der Junge reicht dem linken der beiden Männer den Krug zurück.

Ich schließe die Augen und bemerke, wie ich die Kontrolle über meine Emotionen verliere. Ich denke an jene Nacht zurück. Ich denke an die Dinge, die ich getan habe. Das, was mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Wie ich mich zu dem gemacht habe, was ich jetzt bin. Oder es immer war? Oder jetzt gar nicht bin und nur für sie scheine? Nur etwas, um ihren Hass zu entladen? Ich fühle die Verachtung, die Schande. Ich denke, an das, was ich getan habe und alles was ich sehen kann ist die Frage: Was hätte ich tun sollen? Wenn ich anders gekonnte hätte, jederzeit hätte ich einen anderen Weg gewählt. Ich sehe mein Scheitern, sehe die Auswege, die ich jetzt habe, die ich hätte haben können, doch die ich nicht hatte. Hätte ich anders handeln können? Hätten sie an meiner Stelle anders handeln können? Ich habe es für das richtige gehalten. Unwissend. Naiv. Vielleicht auch dumm. Doch nicht böse! Konnten sie dann nicht einfach sehen, wer ich war und warum ich getan habe was ich getan habe? Was wollten sie von mir? Würden sie nicht aufhören, bevor auch ich endete wie Stephán, von der Scham jener Nacht über die Klippen getrieben?

Ohne es zu bemerken, stehe ich vor dem Vater. Auch er steht, der Sohn hinter ihm in Deckung. Wir schauen uns lange in die Augen, ein weiterer Blick, der mich mit Scham und Schuld durchtränkt. Ich atme tief durch, zwinge mich dazu, mich zu entspannen. Dann wende ich mich ab und gehe wieder. Im Gehen jedoch greife ich mir das Bratenmesser von ihrem Tisch, fahre herum und ramme es dem Mann bis zum Anschlag in den Hals. Das Herausreißen wird zu einer Bewegung in welcher ich die Kehle des anderen Mannes durchtrenne, während er versucht aufzustehen. Mein Zorn kennt kein Halten und mein Blutrausch zieht sich ungehalten durch die Schenke. Für einen Moment gelingt es den drei Männern vom Eingang mich zu überwältigen, doch unmenschliche Kraft fährt in mich. Ich zahle ihnen alles zurück. Die Verachtung, die Erniedrigung, den Spott. Die Scham. Die Schuld. Es geht alles zu schnell. Als wäre es in jener Sekunde zu Ende, in der es begonnen hat. Ich stehe, das Messer und mein ganzer Körper getränkt von Blut und um mich herum ein Meer aus Leichen. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Der Wirt, der Knabe, die Schankmaid und der Sohn. Alle liegen sie zu meinen Füßen, im Dreck, in dem sie mich sehen wollten.

Ich komme wieder zu mir und schaue dem Vater ins Gesicht. Für einen Augenblick überkommt ihn Unsicherheit, als könnte er sehen, was sich hinter meinen Augen abspielt. Dann greife ich ganz langsam in meine Tasche und lege drei Münzen auf den Tisch. Der Ausgleich für das verschüttete Bier. Ich bedanke mich mit der üblichen Geste, wende mich ab und gehe zu meinem Tisch zurück. Ich erfahre keine weitere Beachtung, während ich meine Mahlzeit beende.

Es ist nicht an ihnen, meine Gründe zu erkennen. Es ist an ihnen, den Schmerz zu tragen, den ich ihnen zugefügt habe und kein Grund, keine Läuterung und keine Besserung kann ihnen dies nehmen. Ihr Hass, ihre Verachtung und ihre Wut gehören ihnen. Und für das, was ihnen genommen wurde, mit Recht. Meine Gründe sind mir wichtig, doch für sie ohne Bedeutung.

Aber so wie sie ihren Hass verdienen, so verdiene ich Vergebung. Nicht von ihnen, sondern von mir selbst. Noch fünf Jahre. Fünf Jahre als Ausgestoßener. Verachtet, angespien, gehasst, aber noch ein Teil von ihnen. Doch eine Alternative zum Tod. Versorgt, genug, um zu überleben, ertrage ich die Schande und die Schuld, als Bezahlung für meinen Fehler. Schlussendlich akzeptiere ich, dass ich etwas getan habe, dass so schlimm war, dass es diesen Hass verdient. Und auch, dass sie daran festhalten. Endlich schließe ich Frieden, nicht mit ihnen, sondern mit mir. Und beschließe auch dieses Mal nicht zu rennen, nicht zu fliehen, sondern zu ertragen. Und so esse ich auf, verlasse die Taverne und trage weiter die Verantwortung. Die Konsequenzen. Aber nicht mehr die Schuld. Die dürfen sie dieses Mal behalten. Im Warmen, während ich in die Kälte zurückehre.

Danke fürs Lesen!

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